Berlin, 31. Dezember 1919

Im Zuschauerraum mit
Bernhard Krakauer

Ein Gespräch mit dem Berliner Theaterbesucher Bernhard Krakauer
von unserer Reporterin Alexandra Mae Hiebert

Hiebert sitzt im Zuschauerraum der spannungsvoll erwarteten letzten Aufführung des Jahres 1919 im Lessing Theater:

Sie sind also ein richtiger Theaterexperte?
„Wissen Sie, schon in meiner Jugend habe ich begonnen, Theaterzettel zu sammeln. Damals war ich gerade einmal siebzehn Jahre alt. Ein junger Bub, der in seiner freien Zeit, neben Schule und Freunden, das Theater besucht hat. 1909 habe ich dann auch begonnen, die Theaterzettel und Programmhefte der Aufführungen in einem Buch zu sammeln. Zu meinen Lieblingen zählten die englischen Klassiker von Shakespeare, aber auch Werke aus dem hohen Norden wie Henrik Ibsen und August Strindberg. Neben Shakespeare habe ich mir auch sehr gerne Stücke von Bernard Shaw angesehen. Generell möchte ich sagen, dass die Inszenierungen von Max Reinhardt im Deutschen Theater immer unterhaltsame Aufführungen sind!“

Was sind denn Ihre Lieblingshäuser?
„Ich habe in Berlin sehr viele Auswahlmöglichkeiten an wunderbaren Bühnen, aber ich muss zugeben, dass das Deutsche Theater eine meiner absoluten Lieblingsbühnen ist. Aber selbstverständlich gingen nicht alle meine Besuche nur ins Deutsche Theater. Sehr gerne gehe ich auch in das Lessing Theater oder das Schlosspark Theater. Von 1909 bis 1922 bin ich in 40 verschiedene Räumlichkeiten für kulturelle Abende gegangen. Eine Aufzählung ist fast unmöglich.“

Was führt Sie denn heute ins Lessing Theater?
„Am Lessing Theater habe ich 1919 den Herrn Josef Rehberger in zwei Aufführungen gesehen. Das war am 5. November Der grüne Kakadu und am 11. November Henrik Ibsens Drama Robert Frank. Ich freue mich, heute wieder Rehbergers Talent zu sehen. Aber ich hatte nicht nur die Ehre, ihn auf der Bühne in Berlin zu sehen, sondern auch die kleine Lia Rosen! 1911 habe ich die junge Dame in Max Reinhardts Inszenierung von Aischylos’ Die Orestie gesehen und in Heinrich Kleists Trauerspiel Penthesilea. Damals spielte sie noch kleinere Rollen und hat schon geglänzt. Ich bin bereits sehr gespannt auf ihren heutigen Auftritt in der Hauptrolle der Pippa in Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt! Ich bin überzeugt, dass aus dem talentierten jungen Mädchen ein richtiger Star geworden ist!“

Wenn Sie so oft das Theater besuchen, wie merken Sie sich denn eigentlich all das?
„Meine Theaterzettelsammlung macht es mir möglich, mich an alle bisher 167 besuchten Vorführungen zu erinnern. Sie erzählt mir meine persönliche Theaterbesuchsgeschichte, und es werden hoffentlich noch viele Eindrücke, vor allem jetzt hier in Wien, folgen.“

Das Licht geht aus und die Premiere beginnt. Danke, Herr Krakauer!

„Er war ein großer Sammler und diese Sammlung ist rund um die Welt gegangen

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Miriam Rothbacher,
Bernhard Krakauers Tochter, 2023

Bernhard Krakauer

geb. 25.12.1892 in Berlin
gest. 27.5.1971 in Tuttlingen

Bernhard Adolf Krakauer wird am 25. Dezember 1892 als zweites Kind von Max Krakauer (Lebensdaten unbekannt) und Flora (geb. Süskind, 1858–1916) in Berlin geboren. Sein Vater ist Kaufmann und seine Mutter Chormitglied in Berlin. Gemeinsam mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren Schwester, Eva Adele (1890–1925), lebt er in der Melanchthonstraße 18 in Berlin, wo er das Königliche Luisen-Gymnasium besucht.

Bereits als junger Mann ist er theaterbegeistert und beginnt mit siebzehn Jahren eine Theaterzettelsammlung, die er in den nächsten dreizehn Jahren konsequent befüllt. 
Das Reifezeugnis erhält Bernhard Krakauer zu Ostern im Jahr 1911. Kurz darauf beginnt er sein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wo er Englisch und Französisch studiert. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. Die Kriegsjahre bringen ihm viel Leid. Seine Mutter stirbt am 17. Februar 1916 und er selbst wird verwundet. Im November 1918 erfolgt seine Entlassung als Leutnant der Reserve.

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Er ist nun überzeugter Pazifist, setzt sein Studium fort und besucht wieder häufiger das Theater. Auch seine Dissertation zeugt von seiner Liebe zur Bühne. Er schreibt über die Entstehungsgeschichte von Miss Mitfords ‘Our Village’. Den Doktor der Philosophie erhält er am 15. März 1921. Danach arbeitet Krakauer als Lehrer und lernt dabei seinen Kollegen Dr. David Engländer (1863–1942) kennen. Dessen Tochter Eva Agathe Wilhelmine Engländer (1901–1978) heiratet er am 4. April 1925. Neben seiner Arbeit als Lehrer ist Bernhard Krakauer auch Mitglied im Bund entschiedener Schulreformer. Am 3. Juni 1931 wird sein Sohn Ludwig Krakauer Engländer (1931–1986) geboren. 

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verändert sich das Leben der Familie schlagartig. Im April 1933 verliert Bernhard Krakauer seine Position als Studienrat. 1935 wird seine Tochter Miriam (*1935) geboren. Vier Jahre später flüchtet die Familie nach Bolivien. In den 1960er Jahren kehrt er mit seiner Frau nach Deutschland zurück. Er stirbt am 27. Mai 1971 in Tuttlingen.

Was bleibt?

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Im April 1933 wurde Bernhard Krakauer das erste Mal „beurlaubt“. Sein Einsatz als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg sowie sein schwarzes Verwundetenabzeichen ermöglichten es ihm, bis Oktober 1935 als Lehrer weiterzuarbeiten. Das endgültige Arbeitsverbot folgte am 31. Dezember 1935. 

Aufgrund des Verlustes seiner Arbeit und der immer prekärer werdenden Situation für die jüdische Gemeinschaft unter dem nationalsozialistischen Regime, flüchtete Krakauer gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern nach Bolivien. Auf der Flucht nach Lateinamerika hatte Bernhard Krakauer seine geliebte Theaterzettelsammlung mit über 190 Theaterzetteln im Gepäck. Wie Dokumenten des Bundesarchivs in Berlin zu entnehmen ist, beantragte er am 23. März 1939, wenige Tage vor der Flucht ins Exil, die „Überweisung von Beträgen in das Ausland bzw. Weiterzahlung der inländischen Versorgung“. Der Grund hierfür: Sein Gehalt in Bolivien als Sprachlehrer reichte nicht aus, um seine Familie in La Paz zu ernähren und seine Schwiegereltern David und Sophie Engländer bei der Flucht ins Exil finanziell zu unterstützen. Sein Ansuchen wurde im September 1939 abgelehnt. 

David und Sophie Engländer blieben in Berlin zurück. Eine Flucht aus Deutschland blieb ihnen verwehrt. Sie wurden am 7. September 1942 mit dem Transporter I 60/6183 nach Theresienstadt deportiert. David Engländer starb aufgrund der Zustände des Lagers am 21. Dezember 1942. Sophie Engländer überlebte ihren Mann um fünf Monate und wurde am 3. Mai 1943 im KZ ermordet. 

Bis in die 1960er Jahre blieb Bernhard Krakauer in Bolivien. Seine Kinder, Ludwig und Miriam, kehrten zum Studieren und Arbeiten einige Jahre zuvor nach Deutschland zurück. Die grauenhaften Ereignisse des Holocaust hatten ein schweres Trauma bei seinem Sohn Ludwig hinterlassen, sodass dieser nicht allein leben konnte. Deshalb kehrten auch Bernhard und Eva Krakauer nach Deutschland zurück. In seinem Gepäck transportierte er erneut seine Theaterzettelsammlung. 

Einige Jahre nach Bernhard Krakauers Tod am 27. Mai 1971 versuchte seine Tochter Miriam, ein neues Zuhause für die geliebte Sammlung ihres Vaters zu finden. Keine Universität, kein Museum und keine kulturelle Institution in Berlin zeigte Interesse an dem zeitgeschichtlichen Dokument. Fast fünfzig Jahre später, im Jahr 2020, fand die Sammlung im Archiv des Instituts der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien ihre neue Heimat, um die Erinnerungen von Bernhard Krakauers Theaterbegeisterung zu bewahren.