New York, 11. März 1925

Lia Rosen in New York ! ! !

Jennifer Rotter und Anna Nimmervoll
im Gespräch mit Lia Rosen

Unsere Reporterinnen haben den einstigen Kinderstar Lia Rosen in New York getroffen. Nun berichtet das Schauspieltalent über seinen von Erfolg gekrönten Werdegang auf dem internationalen Parkett der Künste.

Ein vertrauter Name in den Traumlanden Amerikas

Nach einer ruhigen Überfahrt von Europa nach Übersee setzten wir Fuß auf amerikanischen Boden, jener vielverheißenden Erde, die die Hoffnung vieler internationaler Wagehälse an sich bindet, die in der Ferne allzu mutig ihr Glück suchen. Wie es uns durch die umtriebigen Gassen zog, bannte sich unser Blick auf einen Aushang mit unverkennbarem Namen darauf: Lia Rosen hält Bibellesungen in New York! Ohne Hader machten wir uns auf, saßen in dem Saale, als die Stimmgewalt der Rosen das amerikanische Publikum mit dem Klang der Psalme, des Hohelieds und der Geschichte von Samson und Delila erschütterte.

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Es war uns unmöglich, wir mussten die Künstlerin nach getanem Werke ums Gespräche fragen, welches sie so gutmütig gewährte. Lia Rosen führte uns in eines jener Cafés, in welchem sie zu Zeiten zu weilen pflegte. Wir saßen an einem Tische in der Ecke des Raumes, ihre zierliche Form von kleinem Wuchse uns gegenüber. Es lag einem nicht fern, an das Mädchen erinnert zu werden, das einst unser Burgtheater in Staunen hielt.

Ein Kinderstar wird auf den Bühnen Wiens groß

Schon als Kind zieht Lia Rosen das Wiener Publikum in ihren Bann. Nach ihrem herausragenden Debüt am Wiener Burgtheater im Jahre 1907– es sei zu beachten, die junge Rosen brillierte mit drei Rollen in jener Saison – ließ sie sich kaum von jenem Hause fortdenken. In ihrer Zeit bekleidete sie die namhaftesten Kinderrollen aus dem Repertoire der historischen und gegenwärtigen Bühnenwerke. Jedoch, so erzählt sie uns, musste sie nach künstlerischen Diskrepanzen 1911 schweren Herzens ihr Entlassungsgesuch in der Direktion des Burgtheaters einreichen. Nach gespielter Saison 1912 ging Lia Rosen zum großen Bedauern der Wiener Kunstbegeisterten an Berlin und Max Reinhardt verloren.

Auf den Pfaden des Erfolgs von Berlin nach New York

Neben ihrem Engagement am Theater versuchte Rosen am Rad der Zeit zu bleiben und steuerte ihr Talent dem Film bei. Unvergessen ist Der Shylock von Krakau, der 1913 aufs Herzlichste vom begierigen Filmpublikum begrüßt wurde. Wir beneiden all jene, die den Film damals gesehen haben, selbst ist uns dies zu großem Bedauern verwehrt geblieben.

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In Berlin, so sagt Rosen, kam es zu jenem schicksalhaften Treffen mit der Morris-Schwartz-Truppe, die sie schließlich auch nach New York brachte. Amerika hat Lia Rosen aufs Beste aufgenommen. Sie hält ihre Bibelvorlesungen, wie sie auch aus ihrer Zeit in Wien bekannt sind, und feiert derzeit einen triumphalen Erfolg in Der Dybbuk. Es mag kaum überraschen, dass Lia Rosen eine große Bereicherung für die jüdische Theaterszene New Yorks darstellt. Lia Rosen selbst ist dem Lande vollen Herzens zugewandt und erzählt mit schwärmerischer Begeisterung über ihr Leben hier.

Auch privat große Aussichten?

Lia Rosen spricht freigiebig über ihre Schauspielkunst, in privaten Fragen hält sie sich zurück. Der New Yorker Klatsch sagt ihr liebevolle Verbundenheit zu einem gewissen Manne nach. Diese Gerüchte halten sich hartnäckig. Auf Nachfrage sehen wir den Schelm in Lia Rosens ausdrucksstarkem Kindergesicht. Sie verneint es nicht. Für die Zukunft hat sie schon Pläne, verrät sie uns. Sie werde in Bälde eine Reise antreten, meint sie bedeutungsschwer. Gleich wie es sich mit diesen Aussichten verhalten mag, wir wünschen Lia Rosen das Beste auf ihrem Wege und hoffen, auch in Zukunft über ihre nächsten Erfolge berichten zu dürfen.

„Rosen hat Talent, so groß, daß es die kleine Person förmlich sprengt.“

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Wiener Hausfrauen Zeitung, 1907

Lia Rosen

geb. 1893 in Brăila

gest. 1.9.1972 in Tel Aviv

„Liebe Prinzessin Lia Rosen […] Viele schöne Sterne sendet Ihnen Else Lasker-Schüler.“ Diese Zeilen richtet die Dichterin Lasker-Schüler (1869–1945) unter dem Pseudonym „Prinz Jussuf von Theben“ an Lia Rosen, eine der großen Bühnenstars ihrer Zeit.

Die Herkunft Lia Rosens ist weitgehend unbekannt. Es wird vermutet, dass sie um 1893 in Rumänien in der Stadt Brăila in ärmlichen Verhältnissen geboren wurde. Erstmals zieht sie Staunen und Interesse auf sich, als sie im Kindesalter von ihrem Vater, einem Hausierer, zum Vorsprechen ans Theater mit Ersuchen um Förderung gebracht wird. Dem Kind wird großes Talent attestiert, es gehört ab dem fünften Lebensjahr dem Kinderchor des Hofburgtheaters an und wird mit einem zweijährigen Studium am Konservatorium bei Alexander Römpler (1860–1909) gefördert. Anschließend ist Lia Rosen ein Jahr lang als Volontärin unter Max Reinhardt (1873–1943) am Neuen Theater in Berlin tätig, erhält Engagements am Kleinen Theater und dem Berliner Hebbel-Theater. 

Es folgt die Einladung ans Burgtheater, an dem Lia Rosen in drei Rollen gastieren soll: Ottogebe in Hauptmanns Der arme Heinrich, die Titelrolle in Hannele und Hedwigin Ibsens Die Wildente. Lia Rosen wird zum Kinderstar des Wiener Burgtheaters, ist in verschiedenen Rollen zu sehen, ehe sie 1911 aus unbekannten Gründen ihr Entlassungsgesuch an die Direktion richtet und 1912 das Haus verlässt.

Lia Rosen übt eine Faszination auf ihr Publikum aus. Beschreibungen in Artikeln und Kritiken heben wiederholt ihre kindliche Gestalt hervor, die mit Stimmgewalt und Talent die Blicke der Zuschauer*innenschaft auf sich bannt. „Sie hat den Leib eines Kindes. Die Stimmlosigkeit einer wenig entfalteten Privatperson. Und die Erschütterungsmacht eines Propheten. Ein kleines, reglos-pralles Gesicht; dunkles Haar; sie scheint vierzehnjährig zu sein; […] Sie nennt sich Lia Rosen“, schreibt der deutsche Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1948) über sie. So wurde Lia Rosen von ihren Zeitgenoss*innen als Kind von ewiger Jugend konserviert.

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Lia Rosen kehrt nach Berlin zurück und arbeitet dort erneut mit Max Reinhardt. 1913 spielt sie in ihrem ersten, heute verschollenen Film Der Shylock von Krakau. 1916 ist sie in Wien bei einem Gastspiel in Else Feldmanns Stück Der Schrei, den niemand hört zu sehen. 1924 erhält sie ein zweijähriges Engagement in New York und schließt sich der Morris-Schwarz-Truppe und dem dortigen Jiddischen Theater an. Im Jahr darauf heiratet sie den Ingenieur Max Schwartz (Lebensdaten unbekannt), einen Zionisten, mit dem sie nach Palästina emigriert. Lia Rosen wendet sich vom Schauspiel auf der Bühne ab, liebäugelt mit dem Sprechfilm, doch ihr Interesse fokussiert sich anderweitig. Angetrieben vom Glauben an die „künstlerische Beseelung“ Palästinas visioniert Lia Rosen biblische Festspiele in der Osterzeit am Ölberg, die sie mit jemenitischen Juden umsetzen möchte. Lia Rosen lebt bis zu ihrem Tod im Jahr 1972 in Tel Aviv.

Was bleibt?

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"Ich habe, während ich im Theater saß, genau gewußt, daß ich nach Jerusalem zurückmuß und daß ich in Jerusalem bleiben will. … In Europa, wie soll ich es sagen, sind jetzt schlechte Zeiten für die Kunst."

 

Transkript – Ausschnitt aus Begegnung mit Lia Rosen, s. u.

 

1925 heiratete Lia Rosen in New York. Ihr Ehemann Max Schwartz war Ingenieur und als Zionist bekannt. Im Zuge der Hochzeit wandte sich Lia Rosen von ihrer künstlerischen Karriere und den internationalen Bühnen ab und verlegte ihren Lebensmittelpunkt nach Jerusalem. Als Frau Schwarz führte sie ein verhältnismäßig stilles Leben und richtete sich in Tel Aviv ein. Eine Rückkehr nach Europa schloss sie aus, als lebenswert empfand sie einzig den Tumult von New York oder das „Kloster“ in Jerusalem.

Der Umzug von New York nach Jerusalem in den späten 1920er Jahren bedeutete einen Einschnitt in Lia Rosens Leben. Ihre Präsenz in der deutschsprachigen Presse nahm nach 1930 in den kulturellen Nachrichten bedeutend ab. Ihr Name fiel nur noch beiläufig im Zusammenhang mit Wiederaufnahmen und verwies auf die vergangenen Erfolge, die sie mit ihren Rollen als Kinderdarstellerin in Wien hatte. Ein letztes Mal tauchte ihr Name am 4. September 1935 im Neuen Wiener Tagblatt auf, bevor der Name Lia Rosen in den deutschsprachigen Medien vollständig verschwand. 

Lia Rosen selbst spielte nicht mehr auf Theaterbühnen und bedauerte ihre mangelnden Hebräisch-Kenntnisse. Dafür gab sie Schauspielunterricht, hielt biblische Lesungen und versammelte ein großes Umfeld an Künstler*innen und Gelehrten um sich. Angetrieben wurde Lia Rosen von der Idee, ein geistiges Zentrum in Jerusalem zu errichten, in welchem sie Künstler*innen, Gelehrte und Philosoph*innen zusammenbringen könnte. Ihr zweites Herzensprojekt war die Umsetzung von biblischen Festspielen in der Osterzeit am Ölberg in Jemen. Selbst nach der Zeit des Nationalsozialismus wird dem Namen Lia Rosen im deutschsprachigen Raum kein Interesse mehr entgegengebracht. Lia Rosen lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1972 in Tel Aviv.

„Nein, nicht. Jerusalem!… Ich war jetzt in Berlin, nach langer Zeit zum erstenmal wieder. Aber das ist nichts mehr für mich. Ich war im Theater, das ist mir ganz, ganz fremd geworden. Wozu wird das alles gemacht? habe ich mich immer gefragt, was hat dieser große Theaterapparat für einen Sinn? Ich bewunderte einige Menschen, ich habe die höflich mit klopfenden Herzen wieder gehört, oh, ich will gegen keinen Eindruck undankbar sein, aber ich habe, während ich im Theater saß, genau gewußt, daß ich nach Jerusalem zurückmuß und daß ich in Jerusalem bleiben will. … In Europa, wie soll ich es sagen, sind jetzt schlechte Zeiten für die Kunst. Vielleicht muß alle Kunst einen anderen Sinn oder Zusammenhang bekommen, am Ende dient ja auch die Kunst nur einer höheren Kraft. Im Deutschen Theater bekam ich Sehnsucht nach Zuhause, nach Jerusalem.“

Ausschnitt aus Begegnung mit Lia Rosen,
in: Neue Freie Presse, 5.2.1929, S. 12
Quelle: ANNO/Österreichische Nationalbibliothek