Wien, 30. März 1931
Ein Löwenherz für die Wiener Theatergeschichte
Ein Porträt des unermüdlichen lokalen Theaterhistorikers
Siegfried Löwy von unserer Korrespondentin Victoria Luft
Den Vorhang der versunkenen Theaterwelt hochziehen
Gebeutelt von den Schrecken des Krieges und dem darauffolgenden Elend fiel es in den vergangenen Jahren noch sichtlich schwer, sich an die glorreiche Theaterzeit vergangener Tage zu erinnern. Wien – die Stadt, in der die Künste und die Wissenschaft ein Zentrum des alltäglichen Lebens darstellten und die den Metropolen Paris, London und Berlin in nichts nachstand – erwartete aber bald mit frischen und talentierten Künstlern seine Revitalisierung, während die alten Lieblinge des Burgtheaters allmählich verschwanden. Eine neue Ära brach an.
Um der vergangenen Menschen fortwährend zu gedenken und ihr vortreffliches Wirken zu würdigen, widmete sich der Theaterkenner Siegfried Löwy in der vergangenen Dekade verstärkt der Wiener Theatergeschichte und ihren Galionsfiguren. Seiner flinken Feder ist es zu verdanken, dass in den Jahren 1921 bis 1926 ganze sechs Werke entstanden sind – fast ein Buch per annum! Längst zählen Werke wie Aus Wiens großer Theaterzeit. Monographien und persönliche Erinnerungen, die Deutsche Theaterkunst von Goethe bis Reinhardt und Das Burgtheater im Wandel der Zeiten. Kleine Bausteine zur Geschichte dieser Kunststätte zu den Standardwerken einer jeden theatergeschichtlich orientierten Bibliothek. Milieu- und Lokalschilderungen mischen sich mit persönlichen Erzählungen und zeugen von der außerordentlichen Tätigkeit Löwys als lokaler Theaterhistoriker und -chronist. Denn wie kaum ein anderer bewegt er sich in den künstlerischen Kreisen und war bestens bekannt mit unseren Wiener Ikonen Alexander Girardi, Ludwig Gabillon, Josefine Gallmeyer und Antonie Janisch.
Der riesige Bekanntenkreis und das profunde Wissen lassen vermuten, dass Herr Löwy nicht siebzig, sondern weit über hundert Jahre alt ist, so ein Kollege vom Wiener Montags-Journal. Seinem langjährigen, freundschaftlichen Austausch mit Hugo Thimig, Johann Strauß Sohn, Katharina Schratt und unzähligen anderen ist es – gepaart mit seiner verblüffenden Sachkenntnis – tatsächlich zu verdanken, dass diese kulturhistorisch bedeutsamen Büchlein ein plastisches Bild des vergangenen Wiens wiedergeben und hoffentlich als Chroniken der sowohl internationalen als auch echt wienerischen Theaterstadt den zukünftigen Generationen von Nutzen sein werden.
Das künstlerische Andenken bewahren – eine Herzensangelegenheit
Eine besonders innige Freundschaft pflegte Löwy mit dem großen „Walzerkönig“ Johann Strauß, dessen musikalische Schöpfungen und Einflüsse in der Wiener Kulturgesellschaft er ebenfalls in schriftlicher Form ehrte. Mit dem Buch Rund um Johann Strauß. Momentbilder aus einem Künstlerleben, das 1925 zur rechten Zeit – zur Feier des hundertsten Geburtstags des Komponisten – erschien, beschreibt Löwy in seiner bekannt plauderhaften und gleichsam gediegenen Schreibstimme die weniger bekannten Kapitel aus dem Lebensbuch von Strauß und bereichert diese mit wunderbaren Illustrationen und einer Fülle von anekdotischen Materialien. Doch Schreiben ist nicht genug.
Wer den Namen Löwy hört, denkt vor allem an seinen beharrlichen Eifer bei der Denkmalpflege. Die Hingabe, mit der er sich vor zehn Jahren für die Errichtung des Strauß-Denkmals, das am 26. Juni 1921 im Stadtpark enthüllt wurde, einsetzte, ist bemerkenswert. Löwy ist einer, der nicht eher ruht, bis ein Projekt erfolgreich vollendet ist. Die Idee für das Denkmal wurde bereits 1903 zur Diskussion gestellt, und ein sich damals konstituierendes Komitee – Siegfried Löwy war darin aktives Mitglied – hat tatkräftig und mit allen Mitteln versucht, die benötigte Geldsumme auf verschiedenen Wegen einzuwerben. Wahrlich als Geniestreich kann die Erarbeitung des Stummfilms über Johann Strauß gelten, der an den Kinokassen, wie wir uns erinnern, einen nicht unbedeutenden Erfolg verzeichnete. Löwy schrieb zusammen mit Alfred Deutsch-German das Drehbuch, die Regie übernahm Carl von Zeska. Die für den 20. November 1913 angesetzte Premiere des Films Johann Strauß an der schönen blauen Donau endete mit stürmischem Applaus – dies war auch der Verdienst des Meisters Alfred Grünfeld, der an diesem Abend das Orchester dirigierte.
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Siegfried Löwy spielt in der Umsetzung solcher Ideen stets in bescheidener Manier eine tragende Rolle, und ohne sein Engagement in zahlreichen Komitees würden uns die Denkmäler Ferdinand Raimunds, Josef Kainz’ oder Alexander Girardis fehlen. Letzterer erhielt seines am 4. Mai 1929, bei dessen Enthüllung Siegfried Löwy als Präsident des Denkmalkomitees eine berührende Rede hielt. Obwohl Löwy momentan gesundheitlich angeschlagen ist, schreibt dieser unruhige Geist weiter und sitzt bereits an den nächsten theatergeschichtlichen Aufsätzen, die wir bald mit Vergnügen lesen dürfen.
Siegfried Löwy
geb. 1.11.1857 in Wien
gest. 8.5.1931 in Wien
Biografie
Am ersten Tag des Novembers 1857 erblickt Siegfried Löwy (auch Loewy) als erstes von drei Kindern des Ehepaares Rosa (geb. Toneles, 1836–1906) und Heinrich Rudolf Löwy (1815–1884) in Wien das Licht der Welt. Neben den zwei jüngeren Schwestern Jenny (1866–1918) und Gisela (1867–1882) hat Siegfried drei ältere Halbgeschwister aus der ersten Ehe des Vaters mit Mina Löwy (geb. Fürst, 1818–1892). Der aus Bratislava stammende Heinrich Rudolf Löwy zieht 1840 mit seiner ersten Frau nach Wien und arbeitet zunächst als Schneider. Später wird er Warenkommissionär sowie Inhaber eines Agenturgeschäfts in der Werderthorgasse 4 im ersten Bezirk. Das wirtschaftliche Interesse wird in der Familie weitervererbt. Siegfried absolviert das Gymnasium und setzt sich nach dem Besuch der Wiener Handelsakademie sowie der staatlichen Gewerbeakademie in Mühlhausen (Thüringen) intensiv mit nationalökonomischen Themen auseinander. Mit 16 Jahren beginnt er als Journalist und freier Schriftsteller tätig zu werden. Seine ersten Essays und Leitartikel betreffen sowohl wirtschaftliche als auch politische Themen, doch aufgrund seines außerordentlichen Interesses für das Theater veröffentlicht Löwy zudem eine Vielzahl an Theaterkritiken in verschiedenen österreichischen Tageszeitungen wie dem Neuen Wiener Tagblatt oder der Neuen Freien Presse. Als Wiener Korrespondent und Feuilletonist schreibt er zusätzlich für deutsche Zeitungen. Mit der Gründung der Österreichischen Volkszeitung 1888 wird er leitender Redakteur des dortigen Wirtschaftsressorts.
Am 16. September 1889 heiratet Siegfried Löwy die Schauspielerin Antonie Hartmann (1861–1940). Das Paar bekommt eine Tochter, die kurz nach der Geburt stirbt, sowie vier Söhne. Durch seine Eheschließung ist Löwy nicht zuletzt jeder*m in der damaligen Wiener Kunstgesellschaft bekannt. Zu seinem engsten Freundeskreis zählen Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen und Komponist*innen wie Alexander Girardi (1850–1918), Josef Kainz (1858–1910), Felix Salten (1869–1945) und Johann Strauß (Sohn) (1825–1899). Die lokalhistorische Erinnerungskultur ist für Löwy ein wichtiges Anliegen, und so ist es seinem unermüdlichen Engagement zu verdanken, dass die Errichtung unzähliger Denkmäler für Wiener Persönlichkeiten erfolgreich realisiert wird. Seit den 1920er Jahren widmet er sich intensiver der Wiener Theatergeschichte und schreibt einige bedeutende Monografien sowie exzellente theatergeschichtliche Artikel für die Theater- und Kulturzeitung Die Bühne. Nebenbei findet er noch Zeit, sich karitativ für die Gesellschaft einzusetzen: Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gründet er mit der Autorin Alice Schalek (1874–1956) die Kriegsfürsorgeorganisation Schwarz-gelbes Kreuz, unterstützt die deutsche Künstlerhilfe und setzt sich für die Witwen und Waisen des Journalisten- und Schriftstellervereins Concordia ein, in deren Verwaltung er lange tätig ist. Das soziale Engagement führt er neben den journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten bis zu seinem Lebensende am 8. Mai 1931 fort.
„Seine Neigung, ja seine Leidenschaft, habe ihm den Weg gewiesen und dadurch sei er der liebenswürdige Theaterchronist, Theaterbiograph und Theaterhistoriker geworden, der mit seinem profunden Wissen mit den lebenden Schauspielern in regstem Verkehr gestanden ist und mit den längst entschwundenen noch immer vertraute Zwiesprache hielt.“
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Neues Wiener Journal, 12.5.1931
Was bleibt?
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Es klingt paradox: Ein Vergessener, der selbst gegen das Vergessen arbeitete. So kann das Schicksal von Siegfried Löwy beschrieben werden, der für die Erinnerungskultur der Wiener Kulturgesellschaft eine doch so wichtige Rolle gespielt hat.
Am 8. Mai 1931, im Alter von 74 Jahren, starb Siegfried Löwy plötzlich an den Folgen einer urologischen Operation. Unter außerordentlich starker Beteiligung der literarischen und künstlerischen Welt fand drei Tage später seine Begräbnisfeier am Wiener Zentralfriedhof statt. In den ersten Tagen nach seinem Tod gab es kaum eine österreichische oder deutsche Tageszeitung, die nicht im großen Stil einen Nachruf auf den geschätzten Journalisten verfasst hat. Löwy wird darin als äußerst vielseitige, hilfsbereite und liebenswürdige Figur der Wiener Gesellschaft beschrieben, dem erst der Tod buchstäblich die immer tätige Feder aus der Hand nahm.
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Aus Siegfried Löwys großer Familie sind heute keine noch lebenden Nachkommen bekannt. Seine Frau, die früher als Operettensängerin und Schauspielerin gefeierte Antonie, starb am 9. April 1940 im Alter von 79 Jahren in Wien. Ihr Ableben fand keine mediale Resonanz und ihre letzte Ruhestätte blieb unbekannt. Der älteste Sohn Heinrich Rudolf (genannt Harry) (1891–1917) starb im Ersten Weltkrieg im September 1917 in der Türkei. Sein Bruder Paul (1893–1941) ließ 1931 seinen Namen in Paul Hansen ändern und wirkte als Regisseur, Dramatiker sowie Schauspieler in der Wiener Theaterszene. Er starb am 15. Dezember 1941; die Umstände und auch seine letzte Ruhestätte sind unbekannt. Zu den beiden jüngsten Brüdern, Felix (1896–1957) und Ernst (1903–1970), gibt es wenig Informationen. Nachweisbar ist, dass sie ihren Nachnamen in Hartmann änderten und die Shoa überlebten. Ernst arbeitete bis zu seinem Tod als Musikverleger. Felix heiratete zwei Mal und bekam einen Sohn, der allerdings 1944 mit fünfzehn Jahren verstarb.
Der heutige Zustand des Familiengrabes Löwy auf dem Zentralfriedhof steht repräsentativ für den vergessenen Theaterhistoriker und Schriftsteller. Ausgerechnet der Mann, der sich so sehr für die Errichtung von Denkmälern engagierte, hat von der Stadt Wien kein Ehrengrab erhalten – und sein Grab ist in einem maroden Zustand: Der Grabstein liegt umgekippt im Gras und wird von der Vegetation überwuchert.
Auch in der Wiener Theatergeschichtsschreibung wird Löwy übersehen. Seine Monografien und zahlreichen theaterhistorischen Artikel sind bislang keiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterworfen und die Person Siegfried Löwy als Theaterhistoriker,
-chronist und -biograf noch nicht untersucht worden. Des Weiteren fehlt eine umfassende Geschichte der Künstler-Denkmäler in Wien. Der immense Einfluss Löwys auf die Denkmal- sowie Erinnerungspolitik der Zweiten Republik bleibt somit unerwähnt.