Wien, 25. April 1934

Wie ein Antisemit zu einem Kämpfer gegen den
Antisemitismus wird

Ein Nachruf auf Hans Liebstöckl
von unserem Korrespondenten Christian Müller

Der Triumph der Guten und Schönen, wie auch die Wandlung von Charakteren aus dem Schatten heraus, sind oft einfache und fiktive Erzählungen. In Zeiten wie diesen, wo das Licht um uns herum immer düsterer zu werden scheint, sollte man Menschen hervorheben, die uns einen Funken Hoffnung geben. Das Leben von Hans Liebstöckl zeigt diese Hoffnung, Mitgefühl, Veränderung und die Abkehr von Hass.

Am 5. November 1892 feierte der Verein der Deutschen Hochschüler, wie es in der Ostdeutschen Rundschau steht, unter „massenhafter Beteiligung“ die Zeiten des deutschnationalen Prags. Liebstöckl feierte in launiger Rede mit und hielt ein paar Tage zuvor einen einstündigen Vortrag über das „Deutsche Volksthum“ – Liebstöckl war tief im deutschnationalen Milieu verankert. Neben seinen Schriften findet man den Namen Hans Liebstöckl auch im Ausschuss der deutschen Hochschüler in Graz oder im Wahlergebnis der Ortsgruppe Wien des Bundes der Deutschen in Böhmen. Bei vielen Blättern und Vereinen, bei denen er mitwirkte, handelte es sich eben nicht um deutsch-liberale Institutionen. Stattdessen waren sie durch und durch antisemitisch. Hans Liebstöckl war ein Funktionär. Karl Lueger nannte ihn anlässlich seiner Hochzeit mit Olga Klebinder einen „Vollarier“. Seine Schriften in deutschnationalen und antisemitischen Zeitschriften wie auch sein Engagement in deutschnationalen Vereinen wiesen ihn mit Sicherheit als führenden Vertreter der Bewegung des Deutschnationalismus aus. 1895 hielt er eine Rede unter tosendem Beifall, bei der er die Aufgaben des Bundes der Deutschen in Böhmen ein weiteres Mal aufzählte.

Doch dann Stille … 

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Keine deutschnationalen Reden mehr und keine Beiträge für den Bund der Deutschen in Böhmen oder die Germania. Nach seiner Hochzeit mit der getauften Jüdin Olga Klebinder und seinem neuen Engagement in der Reichswehr kann man eine klare Wandlung Hans Liebstöckls erkennen. 1904 ist die letzte Verbindung zu einem „Deutschen Verein“ zu finden, es ist der deutsche pädagogische Verein. Liebstöckl war nun Redakteur bei einer katholisch-konservativen Zeitung. Die antisemitische Reichspost beschwerte sich 1900 in einem Artikel, dass in einem katholischen Blatt „elf Juden und vier Christen“ beschäftigt und die meisten Katholiken auch noch mit konvertierten Jüdinnen verheiratet seien. Diese Entfernung Liebstöckls von seiner Vergangenheit und die Wandlung des Sentiments ihm gegenüber ist vielfach belegt. Der Zorn seiner alten ideologischen Kollegenschaft ist deswegen leicht nachzuvollziehen. Denn schon 1904 wird wieder in der Reichspost posaunt, dass der Liebstöckl doch „Christ“ sei, aber eineJüdin heiratete. In dem Zeitungsartikel steht das Wort Christ unter Anführungszeichen, als ob man es dort in Frage stellt. Weiter wird geschrieben, dass Liebstöckl früher „sogar“ bei antisemitischen Zeitungen mitgeschrieben habe.

Liebstöckl knüpfte neue Freundschaften, aber auch Feindschaften. Er produzierte unglaublich viel an Literarischem: Kritiken, Artikel, Opern, Operetten, erinnern wir uns nur an die ausgezeichnete Oper Aphrodite von 1912! „Liebstöckl ist jetzt sehr en vogue, bei den Juden ist er wie’s Kind im Haus…“, so schrieb Die Fackel 1923. Dort widmet sich die Zeitschrift auch Liebstöckls Artikel für die Reichswehr und seinem Kampf gegen den Antisemitismus und das Deutschtümeln der „Deutschen“. Und obwohl Liebstöckl erst ein paar Jahre zuvor noch zu dieser zweifelhaften Gesellschaft gehörte, kommt der Name Hans Liebstöckl 1913 im abscheulichen antisemitischen Machwerk, dem Semi-Kürschner vor. Facettenreich ist sein literarisches Werk und Wirken: Die Faszination der Mystik goss er in Bücher, seine Arbeit als Chefredakteur für Die Bühne bleibt unvergessen, ebenso die unzähligen Streitgespräche, die letztlich auch im Ehrenkränkungsprozess von Karl Kraus vor zehn Jahren gipfelten. Unbeirrt arbeitete er sein ganzes restliches Leben weiter gegen den Antisemitismus, bis gestern diese polarisierende Persönlichkeit von uns gegangen ist.

„Liebstöckl, der Virtuose des Jargons, ist ein glühender Deutscher, einer, der in seiner deutschen Überzeugung und deutschen Wesenheit im Kreise, in dem er sich bewegt, eine Rarität bildet.“

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Rudolf Holzer, Die Fackel, 1923

Hans Liebstöckl

geb. 26.2.1872 in Wien

gest. 24.4.1934 in Wien

„Sie lieben das auserwählte Volk, das Gott hat auserkoren zu Dichtern, Journalisten und Theaterdirektoren.“ 

Julius Bauer, Die Bühne, 1924 

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Hans Liebstöckl wird als Sohn des Obersts Friedrich Johann Liebstöckl (Lebensdaten unbekannt) und seiner Ehefrau Paula (geb. Fischer, Lebensdaten unbekannt) am 26. Februar 1872 in Wien geboren. Nachdem er seine ersten Schuljahre in Wien verbringt, besucht er ein Gymnasium in Prag. In beiden Städten studiert er Jus, Philosophie und Violine. Zur selben Zeit kommt er erstmals mit dem Journalismus in Berührung. Liebstöckl ist ein deutschnationaler Student, Mitglied der Burschenschaft Germania, Schriftführer der Ortsgruppe Wien des Bundes der Deutschen in Böhmen und in jener Zeit überzeugter Antisemit. In der einschlägigen Zeitung Ostdeutsche Rundschau veröffentlicht er Gedichte und Kurzgeschichten, wie 1892 Das deutsche Gebet.

Während eines Aufenthaltes in Wien entdeckt der jüdische Journalist und Schriftsteller Gustav Davis (1856–1951), der Herausgeber der Reichswehr, Liebstöckls journalistisches Talent und engagiert ihn. Es beginnt eine Wende in Liebstöckls Leben. Er kehrt seiner deutschnationalen Vergangenheit den Rücken und setzt sich von nun an für den Kampf gegen Antisemitismus ein. 1899 heiratet er die (jüdische) Sängerin und Gesangslehrerin Olga Klebinder (1877–1964) in der römisch-katholischen Pfarre Lichtenthal im neunten Wiener Gemeindebezirk. 1900 wird der gemeinsame Sohn Friedrich geboren. Zwei Jahre später erblickt Tochter Louise (verh. Berger, 1902–1974) das Licht der Welt.

1913 scheint Liebstöckl im Namensverzeichnis des Semi-Kürschners auf, einem antisemitischen Pseudo-Nachschlagewerk, das eine Liste unerwünschter und zu verfolgender Menschen enthält. Grund dafür ist die politische und ideologische Wandlung des einst radikalen Antisemiten.

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1924 startet Liebstöckl seine erfolgreiche Laufbahn als Chefredakteur des neu gegründeten Wiener Unterhaltungsblatts Die Bühne. Diese Zeitung verkörpert den Zeitgeist des kosmopolitischen Wiens wie keine andere. „Die Bühne ist für uns alles, was Zuschauer hat“ lautet das kurze, aber prägnante Editorial der am 6. November 1924 erstmals erschienenen Wochenzeitung, die sich mit „Theater, Kunst, Mode, Film, Gesellschaft und Sport“ auseinandersetzt. Liebstöckl widmet sich in seiner Theaterberichterstattung dem Kampf gegen antisemitische Vorurteile. Seine Zeitgenossen Ludwig Ullmann, (1887–1959), Julius Bauer (1853–1941) und Rudolf Holzer (1875–1965) hinterlassen Zeugnisse ihrer Wertschätzung, wobei sie mit viel Witz auf Liebstöckls Liebe zum „auserwählten Volk“ verweisen.

Neben der Kultur interessiert sich Liebstöckl gleichermaßen für die Geschichte der Mystik. 1932 veröffentlicht er das Buch Die Geheimwissenschaften im Lichte unserer Zeit. Seine Vielfältigkeit beweist Liebstöckl, indem er ebenfalls Texte für Opern und Operetten verfasst, unter anderem Aphrodite und Der Schmuck der Madonna. Am 24. April 1934 stirbt Hans Liebstöckl in Wien an einem Herzleiden

Was bleibt?

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Nicht nur Hans Liebstöckl war eine schillernde Persönlichkeit im kosmopolitischen Wien, sondern auch seine Ehefrau Olga Liebstöckl, die ebenso wie ihr Ehemann in Vergessenheit geraten ist.

Olga arbeitete als Sängerin am Prager Landestheater und an der Wiener Volksoper. Während des Ersten Weltkrieges sang sie in Lazaretten, wofür ihr ein Ehrenzeichen des Roten Kreuzes verliehen wurde. Hans Liebstöckl, der am 24. April 1934 an einem Herzleiden in Wien verstarb, hinterließ seine Ehefrau Olga und die zwei Kinder Friedrich und Louise. Kurz nach dem „Anschluss“ flüchtete Friedrich mit seiner Ehefrau Marie aufgrund von politischer Verfolgung. Über sein Leben nach der Flucht im Exil ist bis heute nichts bekannt.

Im Gegensatz zu Friedrich flohen Olga und Louise nicht. Mutter und Tochter blieben in Wien und waren weiterhin Mitglieder der christlich-konservativen Harand-Bewegung, der „Weltbewegung gegen Rassenhass und Menschennot“.
Im März 1943 wurden die zwei Frauen von einem Nachbarn für das „Betreiben eines geheimen Radiosenders“ denunziert. Daraufhin wurden sie von der Gestapo abgeholt und in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie bis zur Befreiung im Juli 1945 inhaftiert waren. Sie kehrten nach Wien zurück und lebten im KZ-Rückkehrerheim in der Seegasse 9.

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Dem Opferfürsorgeakt ist zu entnehmen, dass Olga bis an ihr Lebensende vergeblich versucht hat, eine Einkommensentschädigung für ihre Wohnung in der Hahngasse 24, in der sie mit ihrem Mann und ihren Kindern über vierzig Jahre lang gelebt hatte, zu bewirken. 1961 unternahm Olga Liebstöckl einen letzten Versuch und verfasste einen bewegenden dreizehnseitigen Brief an die zuständige Behörde, in dem sie ihr Leben Revue passieren ließ.

In zittriger Schrift notierte sie:

„Ich bin 85 Jahre alt und habe einen solchen Schwindel, dass ich keine fünf Schritte mache, ohne zu stürzen. Ich habe vollständig den Orientierungssinn verloren, sodass ich nicht nach Hause mehr fünde, bin so vergesslich und habe solche Sorgen mit meiner kranken Tochter, die das schwerste Nervenleiden Parkinson hat, halbseitig gelähmt ist und vor drei Jahren unglücklich stürzte, dass sie das Haus nicht mehr verlassen kann und rasende Schmerzen hat. Was wird mit ihr, wenn ich nicht mehr bin?“

Sie erzählte von ihrer Kindheit in Prag, ihrer Laufbahn als Musikerin und Gesangspädagogin und ihrem gemeinsamen Leben mit ihrem Ehemann Hans Liebstöckl. Und sie berichtete über die entsetzlichen Umstände im KZ Theresienstadt, wo sie Zeugin wurde, wie ein Häftling von Läusen aufgefressen wurde.

Ihre Lebensumstände im Wien der 1960er Jahre schilderte sie wie folgt:

„Ich lebe nun mit meiner Tochter, die eine bekannte Schauspielerin war, ganz zurückgezogen, noch immer von der Haftpsychose gequält.“

Ohne jemals eine Einkommensentschädigung erhalten zu haben, starb Olga Liebstöckl am 28. September 1964 im Altersheim Baumgarten.
Zehn Jahre später verstarb ihre geliebte Tochter Louise.

„Liegt ein Städtchen
so winzig und klein.
Ringsum Kasernen schließen es ein.
Man sagt dem Juden Es sei dein
und sperrt 70.000 Juden hinein.
Man sagt ihnen Jude verreck,
erstick in Bazillen und Dreck.
In Wanzen, Flöhen und Läusen.
Du bist der Staatsfeind Nu. 1 hier.
Die Stadt schenkt Adolf Hitler.““ 

Louise schrieb dieses Gedicht in Theresienstadt

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